Anne Gellinek, Leiterin des ZDF-Studios Moskau
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Die Ukraine ist ein fußballbegeistertes Land und neben Polen Gastgeberland der Fußball-Europameisterschaft 2012. Welche Bedeutung das sportliche Großereignis für die Ukraine und die Menschen dieses östlichen europäischen Nachbarlandes hat, darüber berichtet Anne Gellinek.

Ungefähr einen Monat vor Beginn der Europameisterschaft im Mai fahre ich mit meinem Team in die Karpaten – wir wollen die schönsten Landschaften des Gastgebers Ukraine zeigen und sind auf dem Weg zu einem Rafting-Camp in der Nähe von Iwano-Frankiwsk. Unser Auto holpert bergauf über eine Kiesstraße entlang des Flusses Tschornyj Tschermosch, als wir plötzlich rechts von der Straße ein Fußballfeld sehen. Aus Klopapier hat ein Witzbold die Umrisse eines Fußballplatzes auf einen steilen Hang gelegt, der zudem noch mit Baumstümpfen übersät ist. Ein paar Kühe grasen dazwischen und darunter steht, ebenfalls in Klopapier, geschrieben: »EURO 2012. Wir sind bereit!«

Wir staunen, lachen und filmen das Fußballfeld. Der Künstler ist schnell gefunden. Ein Busfahrer, der uns erklärt, er habe mit seiner Aktion auf den ganzen »Irrsinn« dieser EM hinwiesen wollen. »Wir weihen Fußballstadien mit Stars wie Shakira ein, und gleichzeitig fallen die frischverlegten Kacheln schon wieder von den Wänden. Den Leuten hier geht es davon aber nicht besser!«, sagt uns Maxim Lischowskij. »Die Ukraine ist nicht bereit für diese Europameisterschaft, und dennoch freuen wir uns darauf.« Diese Meinung hören wir häufig in den Wochen vor Beginn des Ereignisses.

Als die Europameisterschaft im April 2007 an Polen und die Ukraine gemeinsam vergeben wird, ist der östlichere Nachbar noch ein Hoffnungsträger. Gerade haben sich die Ukrainer mit ihrer Orangen Revolution für einen demokratischen Weg Richtung Europa entschieden, gerade macht die Ex-Sowjetrepublik die Erfahrung von Einheit und Zusammenhalt. Die Vergabe der EM an die Ukraine sollte auch eine Anerkennung dieser friedlichen Revolution sein.

Fünf Jahre später, im Frühjahr 2012, haben sich die Vorzeichen in dem Land komplett verändert. Die Ikonen der Orangen Revolution, Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko, haben sich heillos zerstritten, viele Versprechungen sind unerfüllt geblieben, das proeuropäische Projekt ist erst einmal diskreditiert. Die enttäuschten Ukrainer wählen – diesmal demokratisch – den Mann, gegen dessen Wahlbetrug sie noch vor Jahren auf die Straße gegangen waren: Viktor Janukowitsch. Mit ihm kommt eine russlandfreundliche Clanwirtschaft an die Macht, die nun verspricht, für das Fußballfest alles so zu richten, wie die UEFA es wünscht.

Die Idee, die EM an die Ukraine zu vergeben, war keineswegs absurd: Tatsächlich ist die Ukraine ein fußballbegeistertes Land. Schachtjor Donezk, Dynamo Kiew und Metalist Charkiw sind Vereine, die ihre Stadien immer füllen, in denen sich die Fans für ihre Clubs begeistern und sich von ihrem meist harten Alltag erholen können. Diese ukrainischen Fans sind glücklich über die Ausrichtung der EM in ihrem Land, doch diese Euphorie soll während der letzten Monate der Vorbereitung auf eine harte Probe gestellt werden.

Beim Stadionbau wird die allgegenwärtige ukrainische Korruption für alle sichtbar, die Rundumerneuerung des Kiewer Olympiastadions ist teurer als der Neubau von Stadien in Südafrika. In fast allen Feldern hinkt die Ukraine den effizienten Polen hinterher. Obwohl einige schwerreiche Oligarchen ihre Portemonnaies öffnen, werden die Straßen nicht fertig, die Eröffnung der Stadien verschoben, es gibt nicht genügend Hotelzimmer, keine Campingplätze, keine Charterflüge.

Die Ukraine steht neben dem Musterschüler Polen da wie der ewige Klassenletzte – und die Menschen im Land empfinden das auch so. Viele fürchten eine Blamage, haben Angst, dass die Touristen enttäuscht sind und niemals wieder in ihr Land reisen werden.

Der Super-GAU aber ist die Verhaftung und Verurteilung von Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Präsident Janukowitsch hat möglicherweise die Folgen unterschätzt, die dieser innenpolitisch motivierte Racheakt international haben würde. Ein Kiewer Gericht verurteilt Julia Timoschenko im Oktober 2011 wegen »Amtsmissbrauchs« zu sieben Jahren Haft und schickt sie in eine Strafkolonie im ostukrainischen Charkiw.

Als wir für die Dokumentation »Rendezvous im wilden Osten« in Charkiw drehen, fahren wir auch zum Gefängnis Nr. 54, in dem Julia Timoschenko ihre Strafe absitzt. Zu unserer Überraschung stehen nicht nur ein paar treue Unterstützer mit Plakaten »Free Julia« vor dem Gefängnistor, sondern auch eine Menge ukrainischer Fernsehteams. Julia Timoschenkos Anwalt hatte sie zusammengetrommelt und kommt wenig später herausgeeilt, um eine Erklärung seiner Mandantin vorzulesen. Julia Timoschenko protestiert gegen ihre Behandlung im Gefängnis und beginnt einen unbefristeten Hungerstreik. Ab jetzt lassen sich die Themen Timoschenko und die EM nicht mehr trennen. Europa wird aufmerksam, spät, aber immerhin. Die innenpolitische Situation gerät in den Fokus – und auch das hat sein Gutes.

Sicher, Julia Timoschenko ist keine Heilige, das wissen viele Ukrainer nur zu genau. Wäre sie zur Präsidentin gewählt worden, sagen viele, hätte sie ihrem Erzfeind Janukowitsch möglicherweise die gleiche Behandlung angedeihen lassen. Aber dennoch empört der Prozess gegen die Ex-Regierungschefin, die letztlich für »schlechtes Regieren« verurteilt wird – und löst eine Debatte aus, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich jeder Grundlage entbehrt: die Debatte über einen Boykott.

Wenige Wochen vor dem Eröffnungsspiel mehren sich die Stimmen, die sagen, der Ukraine müsse das Turnier entzogen werden, um Präsident Janukowitsch für seinen Umgang mit Julia Timoschenko, für seinen autoritären Führungsstil und die Korruption zu bestrafen. Alle Beteiligten wissen, dass es längst zu spät ist, die Stadien sind fertig, die Spielorte ausgelost, die Trainingsquartiere gebucht. Und mit einem Boykott würde man die Menschen in der Ukraine bestrafen, die man ja eigentlich mit der EM belohnen wollte. Denn, wie der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, ein fußballspielender Dichter, feststellt, ist Fußball das Einzige, was die Ukraine noch zusammenhält. »Der Fußball ersetzt in diesem Land offenbar sehr erfolgreich die nationale Idee. (...) Der Fußball macht aus ukrainischen Teenagern ukrainische Bürger und offenbart das Siechtum der vaterländischen Bürokraten. Ich übertreibe nur wenig, wenn ich sage, dass das Land vom Fußball lebt.« Die Boykott-Debatte ist also von Anfang an eine Gespensterdiskussion, die in der Rückschau nicht viel bewegt hat. Präsident Janukowitsch hat seinen Regierungsstil nicht verändert, Julia Timoschenko sitzt weiterhin im Gefängnis und muss sich einem zweiten Prozess stellen.

Das Turnier findet statt – und nun geschieht das Unglaubliche: Die von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Ukrainer, die selbst kaum daran geglaubt hatten, dass sie würdige Gastgeber sein könnten, wachsen über sich hinaus.

Die Kiewer, die Charkiwer, die Lemberger Fanmeilen sind Anziehungspunkte für die doch noch in letzter Minute angereisten Europäer und die verzagten Ukrainer. Jetzt wird gefeiert, und siehe da: Der Funke springt über. Die Ukrainer zeigen sich als freundliche, offenherzige und überaus gastfreundliche Menschen, die alles tun, um einem verirrten Europäer zu helfen. Und auch bei den Gastgebern gibt es erstaunliche Erkenntnisse: Sie lernen Menschen aus Europa kennen, die überhaupt nicht so sind, wie die endlosen EU-Delegationen, die sie in Sachen Wirtschaftsreformen und Demokratie belehren wollen. Diese Europäer auf den Fanmeilen sind tanzende, bunt verkleidete, sehr angeheiterte und gar nicht arrogante Fußballfans. Menschen zum Anfassen.

Die EM ist in dieser Hinsicht ein gelungenes Projekt der Völkerverständigung. Bis heute schwärmen die Ukrainer von den unbeschwerten Sommertagen 2012, als sie zweieinhalb Wochen Urlaub hatten vom innenpolitischen Dauerkampf. Der ist nun längst wieder zurück: Fußballstar Andrej Schewtschenko hat sich als Zugpferd für eine Pseudo-Partei, die Stimmen von der Opposition abziehen soll, kaufen lassen, und kämpft gegen Box-Schwergewicht Witalij Klitschko, der tatsächlich für die Opposition ins Feld zieht.

Die Ukraine hat es geschafft, uns zu überraschen. Mit Katastrophen im Vorfeld und einer dann entspannten und pannenfreien Durchführung der Fußball-Europameisterschaft. So wie das Bild, das wir für das »Rendezvous im wilden Osten« in den Karpaten gedreht hatten, vom fröhlichen Fußballfeld am Steilhang. »EURO 2012«, hatte da gestanden, »wir sind bereit!«.

Anne Gellinek
Improvisiertes Fußballfeld
Anne Gellinek und Armin Coerper an der polnisch-ukrainischen Grenze
Kameramann Aleksandr Sokolkow, Producer Aleksej Akulow und Cutterin Jewgenija Vinkowa
Anne Gellinek und holländische Fans: Das orangefarbene ZDF-Mikrofon kommt gut an